Das Requiem der Anna Achmatowa

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Requiem

Das Requiem der Anna Achmatowa

Das “Requiem” von Anna Achmatowa war zu ihren Lebzeiten (1889 bis 1966) ein wohlgehütetes Geheimnis. Die russische Dichterin hatte dieses Poem für ihren Sohn verfaßt, der zur Amtszeit des Geheimdienstchefs Jeschow 17 Monate lang inhaftiert war. Nur wenige kannten den Text, niemand verriet die russische Dichterin. Vollständig konnte das Werk erst in der Zeit der Perestroika in der Sowjetunion erscheinen. Meine Nachdichtung von 1988/89 basiert auf einer Interlinearübersetzung von Dr. Heike Pfitzner. Die Arbeit, die ein dreiviertel Jahr in Anspruch nahm, wurde nach anhaltendem Fremdeln zum endgültigen Bruch, zu meinem eigenen Abschied vom real existierenden Stalinismus.
Requiem

1935 – 1940

Nein, unter fremde Sterne entweichen –
kann´s nicht. Fremder Fittich wärmt nicht lang.
Damals war ich unter meinesgleichen,
dort, wo auch mein Volk ins Unglück sank.

1961
Statt eines Vorwortes
In den schrecklichen Jahren der Herrschaft Jeschows
verbrachte ich siebzehn Monate in den Gefängnisschlangen.
Irgendwie “erkannte” mich einmal jemand. Da erwachte mit blauen Lippen die hinter mir stehende Frau, die freilich noch nie meinen Namen gehört hatte, aus der uns allen eigenen Erstarrung und fragte mich ins Ohr (dort flüsterten alle): Und das können Sie beschreiben?
Und ich sagte: Kann´s.
Etwas von einem Lächeln glitt über das, was irgendwann ihr Gesicht gewesen war.

1. April 1957
Leningrad

Widmung

Dieses Leid läßt Berge niederkauern
Und zu fließen weigert sich der Fluß.
Aber hinter festen Riegeln lauern
Kerkerlöcher, angstgeschwärzte Mauern
Und das Warten bis zum Schluß.
Irgendwen mag frischer Wind umschmeicheln,
Irgendwen der Sonnenuntergang –
Kennen´s nicht, sind überall die gleichen,
Hören nur der Schlösser übles Kreischen,
Der Soldatenstiefel dumpfen Klang.
Gingen, wie zur Messe aufgestanden,
Durch die menschenscheu gewordne Stadt,
Tote ohne Atem, die sich fanden
An der Newa, wo sich Nebel wanden
Unterm Frühlicht, das noch Hoffnung hat.
Urteil… Ihre Tränen: Ströme, Meere.
Eine Insel ist sie, nur ein Stein.
So als ob ihr Herz geborsten wäre,
So als stürzte rücklings sie ins Leere.
Doch sie geht…, schwankt weiter noch…, allein.
Wo sind jetzt, die seit den Satanszeiten
Unfreiwillig meine Schwestern sind?
Was träumt ihnen in Sibiriens Weiten?
Sehn Gesichte sie im Mondkreis gleiten?
Ihnen folgt mein Abschiedsgruß im Wind.

März 1940
Einführung
Das geschah, als der Tote nur lächelte,
Froh der Ruhe nach Angst und Verrat,
Und um seine Gefängnisse hechelte,
Ausgesetzt wie ein Hund Leningrad.
Als das Heer der Verurteilten schon krank
Von den Qualen, und irr, zog entlang,
Wo der Trennung zerreißender Gesang
Aus den Pfeifen der Dampfloks erklang.
Als die Sterne des Todes uns schreckten
Und das schuldlose Rußland sich wand
Unter Stiefeln, den blutig befleckten
Schwarzen Wagen, “Marussja” genannt.
I
Schon vor Tag schleppten fort dich die Schinder.
Wie zum Leichenzug schloß ich mich an.
In der Wohnstube weinten die Kinder
Und das Licht der Maria zerrann.
Am Ikonchen, vom Frosthauch beschlagen,
Deine Lippen, die schweißnasse Stirn.
Wie die Strelitzer Fraun werd ich klagend
Mich zu Füßen des Kreml verirrn.

Herbst 1933
Moskau
II
Fließt so still der stille Don,
Steigt der gelbe Mond vom Thron,
Tritt herein durchs morsche Tor,
Schief die Mütze überm Ohr,
Sieht den Schatten einer Frau,
Einsam und vor Kummer grau.
Tot der Mann. Der Sohn vorm Lauf.
Nehmt in das Gebet mich auf.
III
Nein, das bin nicht ich, das ist jemand anders, der leidet.
Ich könnte es so nicht, doch das, was geschah,
Sollen schwarze Tücher bedecken,
Und fort die Laternen…

Nacht.
IV
Wenn du wüßtest, du Selbstvergessene,
Unter Freunden, durch nichts beschwert,
Frohe Sünderin, Spottbesessene,
Wie im Leben alles sich kehrt.
Wie als Hundertste du dort aufgestellt
Unter Kreuzen, bis man dich nennt,
Und an deiner Träne, die niederfällt,
Rings das Neujahrseis sich verbrennt.
Wie die Pappel schwankt, die geblendete,
Und kein Laut – doch wie viele dort,
Deren Leben schuldlos sich endete…

 

V
Seit siebzehn Monden schreie ich.
Komm heim, ruf ich dir zu,
Vor Henkern auf den Knien für dich,
Mein Sohn, mein Unglück du.
Alles verwirrt für alle Zeit,
Daß ich umsonst mich frag,
Was Mensch, was Tier im Menschenkleid
Und wann dein letzter Tag.
Der Klang von Weihrauchfässern nur
Und Blumenpracht und eine Spur
Ins Nirgendwo, von fern.
Und in die Augen blickt mir starr
Und kündet nahende efahr
Der ungeheure Stern.

1939
VI
Wochen, die vorübergehen,
Was geschah, begreif ich nicht,
Wie die weißen Nächte dich,
Söhnchen, im Verlies gesehen.
Wie sie auf dich blicken dort
Und mit Habichtsaugen drohen.
Über deinem Kreuz, dem hohen,
Hat der Tod das letzte Wort.

Frühling 1939
VII

Urteil

Und es stürzte wie ein Marmorquader
Auf mein Leben in der Brust dies Wort.
Doch ich war bereit, kein Grund zum Hader.
´s geht schon weiter, immerfort.
Ich hab heute viel zu tun, muß handeln.
Mein Gedächtnis muß getötet sein,
Meine Seele sich in Stein verwandeln,
Daß ich lern, zu leben wie ein Stein.
Und wenn nicht… Der Sommer schlägt die Schellen,
Bis es wie ein Fest vorm Fenster braust.
Lang voraus schon fühlt ich diesen hellen
Tag und dieses öd gewordne Haus.

Sommer 1939
VIII

An den Tod

Du kommst ja sowieso – warum nicht gleich – zu mir.
Es wird nicht gut – worauf noch harren?
Ich hab das Licht gelöscht, geöffnet meine Tür
Für dich, den Schlichten, Wunderbaren.
Nimm nur Gestalt an, wie es dir beliebt.
Brich ein als Giftgeschoß, erschlage
Mit schwerem Eisen mich, geübt wie ein Bandit,
Umschleich als Typhusdunst mein Lager.
Erschein als Märchen, von dir ausgedacht
Und allbekannt bis zum Erbrechen,
Damit ich sehn kann unter blauer Mützenpracht
Den Hausverwalter, blaß vor Angst und schwächlich.
Mir ist jetzt alles gleich. Der Jenissej türmt Gischt.
Ich kann auf den Polarstern schauen.
Und der geliebten Augen blaues Licht
Umschattet schon das letzte Grauen.

19. August 1939
IX
Schon senkt der Wahnsinn leise
Auf meine Seele seine Schwinge,
Sein schwerer Wein zieht Feuerkreise,
Ins schwarze Tal lockt seine Stimme.
Und ich verstand: Zum Schluß wird ihm
Der Sieg auch über mich gehören,
Die ihren Fieberphantasien
Schon lauscht, als ob es fremde wären.
Und nichts wird mir von ihm gewährt,
Daß ich es fortan mit mir trage
(Wie man auch bittet und begehrt
und ihn bedrängt mit seiner Klage):
Des Sohnes Schreckensaugen nicht,
Die steingewordene Bedrängnis,
Nicht jenes Tags Gewitterlicht,
Das Wiedersehen im Gefängnis,
Die sanfte Kühle nicht der Haut,
Der Linden unruhvolle Schatten,
Und nicht der ferne, sachte Laut
Des letzten Trostes, den wir hatten.

4. Mai 1940
X

Kreuzigung

“…nicht beweine mich, Mutter,
der ich im Grab bin.”

1
Die Engel, diesen Tag zu preisen, sangen.
Die Himmel schmolzen hin im Flammenmeer.
“Warum bist, Vater, du mir fortgegangen!”
Und: “Nicht bewein´ mich, Mutter…”, sagte er.

2
Magdalena schlug sich und wehklagte.
Steingeworden blieb der Jünger stehn.
Doch wo stumm die Mutter stand, dort wagte
Nicht ein einziger mehr hinzusehn.
EPILOG

1
Erfahren hab ich, wie Gesichter bleichen,
Wie unter Augenlidern Angst sich regt
Und wie der Keilschrift ungefüge Zeichen
Das Leid in eingefallne Wangen schlägt,
Wie plötzlich blondgelocktes, schwarzes Haar
In silbriges Gespinst verwandelt wird,
Ein Lächeln welkt, das wie der Frühling war,
Und wie die Furcht im trocknen Lachen klirrt.
Ich bete nicht für mich um etwas Mut.
Für jede bet ich, die mit mir dort stand
Im bittren Frost wie in der Juliglut
An dieser roten blindgewordnen Wand.

2
Aufs neue nun jährt sich, was damals geschah.
Ich sehe, ich höre, ich fühle euch nah:
Und sie, die man grad noch ans Fenster geführt,
Und sie, die nicht heimische Erde berührt,
Und sie, die geschüttelt ihr kindliches Haupt,
Gestammelt: “Hier komme ich her, wie nach Haus.”
Gern hätt ich sie alle beim Namen genannt.
Geraubt sind die Listen, sind nirgends bekannt.
So hab ich ein Tuch für sie alle gewebt
Aus Worten erlauscht, wo wir flüsternd gebebt.
Sie blieben in mir und für immer bewahrt.
Sie blieben, welch Unglück auch meiner noch harrt.
Und preßt man den Mund zu, aus dem jenes Leid
Von meinem Einhundertmillionenvolk schreit,
So mag es auch meiner gedenken am Tag,
Bevor ich zur Ruhe gefunden im Grab.
Doch wenn man sich aufschwingt dereinst und man plant,
Ein Denkmal zu bauen für mich hier im Land,
So laß ich die Ehre mir gerne geschehn.
Nur eine Bedingung: Es darf nicht entstehn
Am Meer, wo die Wiege, das Vaterhaus stand.
Zerrissen ist längst dieses schützende Band,
Versperrt auch der Garten des Zaren, der Ort,
Wo Schatten mich suchen, mein Baumstumpf verdorrt.
Will stehn, wo ich dreihundert Stunden schon stand,
Wo niemand, die Riegel zu öffnen, sich fand,
Weil selbst noch im Tod mich die Angst nicht verläßt,
Daß ich der “Marussjas” Grollen vergeß,
Vergeß das verhaßte Geknalle der Tür,
Das tierische Heulen der Alten vor mir.
Und fließen soll dann, wo ich unbewegt steh,
Von bronzenen Lidern, wie Tränen, der Schnee.
Die Taube soll gurren, wo alles zersprang.
Und still ziehn die Schiffe die Newa entlang.

März 1940
Fontany Dom
(c) Henry-Martin Klemt
Erstmals in Deutschland veröffentlicht in “Ostprodukte”, Brandenburger Verein für politische Bildung “Rosa Luxemburg” e.V. (jetzt: Rosa-Luxemburg-Stiftung), 1993
http://hmklemt.de/